Mittwoch, 16. März 2011

Sinnlichkeit im Nahverkehr

Seit gut 6 Wochen bin ich ja nun komplett auf die öffentlichen Verkahrsmittel angewiesen. Manche Distanzen lassen sich zu Fuß nicht bewerkstelligen und mit dem Auto mag ich allein mit Kind nicht fahren. I
ch mein: nix gegen den Lupo. Der ist ein absolutes Transportwunder. Mehrere Billy-Regale und andere Dinge beweisen es. 
Aber das Ding hat nun mal keinen Kofferraum und irgendwie kann ich den Gedanken schlecht ertragen, dass mein Baby quasi auf der Straße sitzt.
Lange Rede, kurzer Sinn: ich fahre Bahn.

Gestern Regionalbahn, die man als Einzelperson mit Kinderwagen kaum besteigen kann. Erstens sind da Stufen, die mich spontan an Eisensteins "Panzerkreuzers Potemkin" denken lassen und zweitens befindet sich in der Mitte des Einstiegs ein Handlauf, der es unmöglich macht, den Kinderwagen im Ganzen in den Zug zu bekommen.

Deshalb sah das gestern dann so aus: 
Unmöglichkeit, die Stufen zu überwinden erkannt und die Wanne des Kinderwagens abgenommen. 
Kind in den Zug gestellt. (kurz von der Albtraumvorstellung durchzuckt, dass sich jetzt die Türen schließen und mein Kind das erste Mal allein Zug fährt). 
Versucht das Untergestell in den Zug zu bugsieren. 
Gescheitert. 
Gepäcknetz des Kinderwagens ausgeräumt und in den Zug gestellt. (Das Kind hätte am Zielbahnhof jetzt Windeln und einen Wechselbody. Immerhin.)
Untergestell seitlich am Handlauf vorbei in den Zug bugsiert. 
Schweißgebadet auf's Klapphöckerchen gesetzt.
Geschworen, so schnell keine Reise mehr per Regionalexpress zu unternehmen.
An dieser Stelle auch noch einen Dank an den rauchenden Rotzbengel, der ganz schnell abgehauen ist, als meine Hilflosigkeit offenbar wurde. Danke, du Arsch.

Apropos Arsch: die Straßenbahn benutze ich ja fast täglich und meistens kann ich nicht meckern. Die neuen Bahnen, die hier eingesetzt werden haben breite Türen und sind an den meisten Haltestellen ist der Einstieg ebenerdig. 

Grund für Wut und Frust gibt es trotzdem ab und an und wenn dann liegt es meist an den netten Mitfahrern. So haben die Bahnen hier am hinteren Ende der einzelnen Wagen einen ausgewiesenen Bereich für Kinderwagen. Der ist für knapp 2 Kinderwagen konzipiert und für die Mütter gibt es zwei Klapphöckerchen. (Die sie allerdings nicht benutzen können, weil ja da die Wagen stehen, aber egal)
Nach unserem letzten Ausflug zur Babymassage besteige ich also die Straßenbahn und was ist: das sitzt ein Typ auf dem Klapphöckerchen - und zwar direkt unter dem Aufkleber mit dem Kinderwagen-Symbol.
Da wurde es natürlich ganz schön eng. So eng, dass ich ihm leider über den Fuß fahren musste. 
Aus Versehen versteht sich. 
Die Krücken hab ich echt erst viel später entdeckt und mich dann auch ordentlich geschämt.

Jedenfalls musst ich die gesamte Fahrt stehen, da der Krückentyp auf dem Höckerchen saß. Die 6 Sitze, die eindeutig für Menschen mit Krücken gedacht waren (entsprechendes Symbol mit Kreuz überm Sitz sollte jedem bekannt sein), waren besetzt durch: eine knapp 19-jährige Blondine, eine Business-Lady, ca. 30, ein Penner, etwa 4 Tage nicht gewaschen, ein jüngerer Typ mit Jack-Wolfskin-Jacke, 349€ und einer lesenden Dame zwischen 50 - 60 sowie der Handtasche der lesenden Dame. Ihnen allen war gemein, dass sie total angestrengt aus dem Fenster, an die Decke, auf ihre Schuhe, ins Buch starrten.

Ich hatte mittlerweile einen Hals wie eine Keksdose und mich gedanklich mit dem Krückenmann solidarisiert, den ich durch Zuzwinkern zur Revolte auffordern wollte. Der guckte aber auch nur auf die Krücken. 
Also guckte ich mir die Mitfahrer an und mein Blick blieb am Buch der lesenden Handtaschendame hängen. Ein Buch, dass feinsäuberlich eingeschlagen war, wobei der Umschlag aus einer russischen Klatschzeitung selbstgesbastelt war. Die Leserin war komplett in ihre Lektüre vertieft und ihre Hand klammerte sich krampfhaft um ihre Handtasche. Offensichtlich war es spannend.
Und während ich noch dachte: "Mensch, das ist ja toll, wie behutsam manche Leute mit ihren Büchern umgehen. Du musst dir echt abgewöhnen, die Dinger immer aufgeschlagen liegen zu lassen." konnte ich einen Blick auf die erste Seite des Werkes werfen. Titel: "Im Sog der Sinnlichkeit". Verfasserin: hab ich vergessen, aber irgendein französischer Name wie Angelique oder Claudette. 

So sieht sie also aus, die Erotik des Nahverkehrs: ein billiger Fickelroman mittags in der Tram. 













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